Beim Betreten des Gottesackers der Brüdergemeine Neuwied lesen wir auf dem 1860 errichteten Torbogen die Bibelstellen: »Ich bin die Auferstehung und das Leben« Joh. 11,25, auf der Innenseite heißt es: »Christus ist der Erstling unter denen, die da schlafen.«

Die goldenen Aufschriften auf jeder Seite des Torbogens fassen die Symbolik des Gottesackers in Sprache: er ist ein liturgischer Raum!

Es ist der zweite Gottesacker der Brüdergemeine in Neuwied.

Der erste Gottesacker, von 1750-1793 mit 326 Bestattungen im Bereich der Hermannstr./Marktstraße, damals außerhalb des Stadtkernsgelegen, musste wegen Erweiterung der Stadt in Richtung des Stadtteils Heddesdorf aufgegeben werden. Zur Anlegung der jetzigen Begräbnisstätte (an der Elisabethstraße) kauften die Brüder von der Abtei Rommersdorf 2½ Morgen Land für 1062½ Rth.. Die inzwischen in den Fürstenstand erhobene Wiedische Regierung erteilte am 10. Mai 1794 die dazu erforderliche Concession.Schon einen Monat später, im Juni 1794, fand die erste Bestattung/das erste Begräbnis eines Gemeindemitgliedes statt. 16 Brüder trugen den Sarg in 2 Gruppen von dem Saal in der Friedrichstraßezu dem1,5 km entferntenneuen Gottesacker.

Das Begräbnis in der Brüdergemeine unter Mitwirkung des Bläserchores und dem Singen von Oster-und Auferstehungsliedern wird nicht als Trauerfeier verstanden, auch wenn traurige Menschen daran teilnehmen. Die heimgegangenen Geschwister werden nicht aus der Gemeine entlassen, sondern in die »neue Gemeinschaft« der vollendeten, der »oberen Gemeinde« übergeben. Die Gleichheit vor Gott und die Einfachheit spielen auch bei der Beerdigung eine entscheidende Rolle. Dies wird auch durch die Bestattung in einem schlichten weißen Sarg symbolisiert.

In der Brüdergemeine, aberauch anderswo,z.B. ist das Gottesacker-Plateau zwischen Bregenzerwald und den Allgäuer Alpen oder der Stadtgottesacker in Halle bekannt,nennt man die Stätte, wo die Verstorbenen, die Heimgegangenen,beerdigt werden, nicht Friedhof(also umfriedeter Hof für die Gräber) oder Kirchhof,sondernGottesacker (also Gott geweihter Acker; ursprüngliche Bezeichnung für den in den Feldern liegendenBegräbnisplatz im Unterschied zum Kirchhof –was ja auch in Neuwied damals, außerhalb der Stadt, der Fall war.) Eine poetisch verwandte Beschreibung ist der Totenacker = wo der Tod sein Feld bestellt.Aber der Tod, wie wirin der Brüdergemeine, mit denübrigen christlichen Kirchen glauben, bleibt nicht Sieger; die ganze Gottesackeranlage bezeugt, wie man es auf den Inschriften des eben durchschrittenen Torbogens – übrigens auf den Torbogen der Gottesackeranlagen anderer Brüdergemeinorte (z.B. Herrnhut, Niesky, Ebersdorf, Berlinoder Königsfeld) – lesen kann: Wir haben eine lebendige Hoffnung auf die Auferstehung der Toten! – Dieses Vertrauen, dieser Glaube wird jedes Jahr erneut gelebt in der Auferstehungsfeier am Ostermorgen bei Sonnenaufgang auf dem Gottesacker.

Bereits vor Sonnenaufgang versammelt sich die Gemeinde in der Kirche. Es erklingt keine Glocke und keine Orgel, der Pfarrer begrüßt die Anwesenden mit gesungenen Worten: »Der Herr ist auferstanden« und die Gemeinde antwortet mit: »Er ist wahrhaftig auferstanden!« Dann folgt ein Osterchoral und ein Teil der Osterliturgie. Unter der Begleitung des Bläserchores zieht die Gemeinde (zu Fuß) zum Gottesacker, wo die Liturgie fortgesetzt wird. Es werden die Namen derer verlesen, die im Laufe der zurückliegenden Monate in die Ewigkeit abgerufen worden sind.Im Ablauf des Kirchenjahres nimmt diese Ostermorgenversammlung einen besonderen Platz ein.

Der 1794 angelegte Gottesacker zeichnet sich im Unterschied zur barocken Friedhofskultur durch betonte Schlichtheit der Gestaltung aus (einheitliche Grabgrößen, genormte, liegende Grabsteine, schlichte Aufschriften (nämlich Name –ohne Titel oder Berufsbezeichnung -, Geburtsdatum-und Ort sowie Datum des Heimgangs und ein Bibelwort oder eine Bibelstelle), Dominanz der Horizontalen.

Die Brüdergemeine setzte in dieser Gestaltung des Gottesackers, beginnend in Herrnhut 1730, ihre Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen vor dem Tode und der Ruhe vor der Auferstehung um.
Darum sind auch die über 1600 Verstorbenen in der zeitlichen Reihenfolge ihres Heimgangs nebeneinander begraben – in Anlehnung an die traditionelle Sitzordnung im Kirchensaal nach Geschlechtern getrennt –also eine Schwestern-und eine Brüderseite.

Sonderplätze und Ehe-oder Familiengräber gibt es nicht, denn die Gemeine ist die große Familie der Kinder Gottes.
Im Zentrum des Gottesackers sehen wir ein schlichtes Sandstein-Kreuz, auf dessen Sockel die Inschrift zu finden ist: Unseren teuren Gefallenen. Sie erinnert uns an die im erstenWeltkrieg gefallenen Mitglieder der Gemeine. Davor ein liegende Tafel: 1939 –1945 – den Schwestern und Brüdern zum Gedächtnis.
Gehen wir auf dem Mittelgang hinter dem Kreuz weiter, so kommen wir zu den ersten vier Quadraten der Anlage des alten Gottesackers, der von der 1899 gebauten Mauer abschlossen wird.
Links die Gräber der verheirateten Schwestern –und vom Wege ausgesehen –in den ersten drei Reihen die Gräber der jüngeren Mädchen. Rechts vom Wege finden wir dieselbe Anordnung der verheirateten Brüder und der jüngeren Knaben.
Das Quadrat unterhalb der verheirateten Schwestern ist den ledigen Schwestern vorbehalten bis auf die erste Reihe, in der wir wieder Mädchengräber sehen. Den ledigen Schwestern gegenüber ruhen die ledigen Brüder und in der ersten Reihe die Knaben.
Nur in den oberen vier Quadraten ist diese eben erwähnte Anordnung durchgehalten worden. Da die Sterblichkeit unter den Schwestern (Kindbettfieber etc.) wesentlich größer war als bei den Brüdern, war die Schwesternseite bis hin zum Eingang des Gottesackers schneller belegt als die der Brüder. Darum ist auf der Brüderseite auch das erste Karree, rechts vom Eingang, mit Schwestern belegt.

Mit der Erweiterung des Gottesackers wurde jenseits der ehemaligen Hecke hinter den Schwesterngräbern 1962 begonnen. Auch hier finden wir die Einteilung in Schwesternseite und Brüderseite.

An dieser Stelle ist (hinsichtlich der Begriffe ›Brüder, Schwestern, Mädchen, Knaben‹) etwas zu sagen über die Choreinteilung und Chorhäuser der Mädchen, Schwestern,Brüder, Knaben, auch Witwer und Witwen innerhalb der ab 1727 beginnenden erneuerten Brüdergemeine.
Die starke Dynamik der Brüdergemeine beruhte im Wesentlichen darauf, dass alle Mitglieder fast von Beginn an in Gruppen aufgeteilt waren, in welchen man sich gegenseitig zum Wachstum in Glaube und Liebe zu einander anhielt.
Eine Einteilungsform in sog. Chöre,Seelsorgegruppen, konnte sich als bleibendes Strukturprinzip durchsetzen.
Zu diesen Chören, die in eigens dafür erbauten Chorhäusern (z.B. Brüder-/Schwestern- und Witwenhaus)lebten und ein weitgehendes Eigenlebenführten, waren die Mitglieder nach bestimmten Lebenssituationen zusammengefasst: Alter, Familienstand und Geschlecht.
So gab es ein Chor der ledigen Schwestern, der ledigen Brüder, der Eheleute,der Witwen und Witwer, der Knaben und der Mädchen.
Der Leitgedanke dieser Choreinteilung war in erster Linie ein seelsorgerlicher. Die Chöre verstanden sich als Dienstgemeinschaft mit dem Ziel des diakonischen und missionarischen Einsatzes.
Die Chöre der ledigen Schwestern und der ledigen Brüder waren allerdings nicht nur Lebens-und Wohngemeinschaften, sondern besonders auch Arbeitsgemeinschaften,woraus sich blühende Handwerksbetriebe und Manufakturen entwickelten (Brüderhaus, Schwesternhaus). Die gemeinsameLebenshaltung bestritt alle Ausgaben, ebenso kamen die Einnahmen allen zu Gute (ein urchristlich-kommunistischer Aspekt).
Auch bestand durch die Versorgung der nicht mehr im Arbeitsprozessstehenden Mitglieder bereits eine Art Sozialversorgungsnetz.
Der meist in den Brüdergemeinorten zentrale Standort der Chorhäuser (um einen Platz) wurde durch deren Doppelfunktion als Dienstleistungs-und Versorgungszentrum (Schwestern-/ Brüder-und Witwenhaus) und Ausbildungsstätte (Knaben-und Mädchenanstalt, Zinzendorfgymnasium) bedingt.

Es ist überraschend, allein dieGeburtsorteder Verstorbenen in ihrer Vielfalt zu vergleichen. Nicht nur aus Europa, sondern von allen Kontinenten tauchen die unterschiedlichsten Namen und Geburtsorte auf. Daran ist erkennbar, wie weit verzweigt und einflussreich die Brüdergemeine unterAnderem durch die Missionsarbeit auf der ganzen Welt war und ist (z.B. Süd-, Mittel-und Nordamerika, Südafrika, Tansania, Grönland, Labrador, Antigua, Tobago, Nicaragua, Surinam und Westindien).
Auf Herrnhuter Gottesackeranlagen, so auch in Neuwied, werden (bisher) grundsätzlich keine Gräber neu belegt.
Verwaltung und Pflege des Gottesackers ist Aufgabe der Gemeine. Sie wird darin unterstützt durcheinen bei ihr angestellten Gärtner, grabpflegende Angehörige der Verstorbenen oder finanziell im Rahmen von Grabpflegeverträgen, die zu Lebzeiten abgeschlossen worden sind. Im Frühjahr und Herbst werden Blumen gepflanzt, bei Neuanlagen die Grabstellen mit Muttererde angelegt und mit Efeu bepflanzt.Für die umfangreiche Baumpflege und die Laubbeseitigung bestehen Verträge mit der Stadt.

Harald Colditz

Quellen:

  • »200 Jahre Kirchensaal« der Brüdergemeine Neuwied 1785 –1985
  • »Neuwied, Schloß und Stadtkern« Rheinische Kunststätten v. M. Backes u. H. Merian
  • »Die Herrnhuter Brüdergemeine im städtischen Gefüge von Neuwied« v.1988, Harald Boldt Verlag, Boppard