Die Stadt Neuwied ist seit ihrer Gründung im Jahre 1653 bis in unsere Tage zu einem Zufluchtsort und einer neuen Heimat für die verschiedenen Religionsgemeinschaften geworden, die um ihres Glaubens willen verfolgt und vertrieben wurden. Nach den Mennoniten, den Reformierten und Lutheranern kamen von 1750 an auch die "Herrnhuter" nach Neuwied.

Die Geschichte der "Unitas fratrum" (Gemeinschaft der Brüder) beginnt vor über 500 Jahren nach der böhmischen Reformation des Johann Hus (+ 1415). Im Dreißigjährigen Krieg wurde diese älteste evangelische Konfession zerschlagen, ein Opfer der Gegenreformation; ihr letzter Bischof, Amos Comenius (1592 - 1670), starb im Exil. Viele Angehörige der Brüdergemeine suchten nun jenseits der Grenze Zuflucht vor den ständigen Verfolgungen und der Unterdrückung ihres Glaubens. 1722 wanderte eine kleine Gruppe von Glaubensflüchtlingen aus Mähren in der sächsischen Oberlausitz aus. Sie gründeten das Städtchen Herrnhut.

Der junge Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700 - 1760), der im Geiste des Pietismus aufgewachsen war, gestattete ihnen die Ansiedlung auf seinem Grund und Boden. Zu ihnen gesellten sich weitere Verfolgte verschiedener evangelischer Glaubensrichtungen.

Durch Tatkraft, seelsorgerlichen Einsatz und Ideenreichtum, begründet in der persönlichen Verbindung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Heiland entstand aus dem zusammengewürfelten Haufen von Glaubensflüchtlingen die Herrnhuter Brüdergemeine als eine Lebens- und Dienstgemeinschaft, die sehr rasch in alle Welt ausstrahlte. Schon 1732 zogen die ersten Missionare nach West - Indien (Karibik). Heute ist aus diesen Anfängen eine kleine, aber weltweite Kirche geworden, die Evangelische Brüderunität (Unitas Fratrum, Moravien Church, Iglesia Morava). Sie umfasst in 18 Provinzen Christen aus vielen Völkern und Sprachen in Süd-, und Ostafrika, auf dem amerikanischen Kontinent von Alaska bis Südamerika, in Palästina, Nord - Indien und Europa.

Die für das 18. Jahrhundert ungewöhnliche Missionstätigkeit brachte es mit sich, dass die Brüdergemeine eine unabhängige Freikirche wurde mit eigener Verfassung, Synode und Kirchenleitung. Sie entwickelte jedoch kein jedoch kein eigenes dogmatisches Lehrsystem. Jesus Christus gilt ihr als Herr und Haupt, Grundlage und Ziel der Gemeinde. Sie erkennt im Wort vom Kreuz Quelle und Richtschnur ihres Lebens und bezeugt die frohe Botschaft.

Sitze der Kirchenleitung für das europäische Festland sind Herrnhut in Sachsen, Bad Boll in Württemberg und Zeist in den Niederlanden. Die Brüdergemeine ist der Evangelischen Kirche in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts angeschlossen und arbeitet sowohl in der Ökumene als auch im Bund ev. Freikirchen mit. So ist es möglich, dass Pfarrer der Brüdergemeine im Dienst einer Landeskirche stehen können, oder umgekehrt, landeskirchliche Pfarrer bei der Brüderunität. Auch ist eine Doppelmitgliedschaft in anderen ev. Kirchen und der Brüdergemeine möglich.  

Eine große Mitgliederzahl hat die Brüdergemeine in Europa nie gehabt, denn sie lehnte es immer ab, Christen aus anderen Kirchen abzuwerben. In Deutschland, Schweiz, Niederlande und Skandinavien gehören zu ihr etwa 15.000 Mitglieder. Trotzdem ist ihre Ausstrahlung erstaunlich; in der ganzen Welt zählt sie 1.251.000 Mitglieder (Stand Januar 2019).

Vor allem die Losungen, ein Andachtsbuch mit Schriftworten für jeden Tag, das in ununterbrochener Folge 1980 zum 250. Mal erschien, ist weit über die Brüdergemeine hinaus verbreitet. Es geht zurück auf einen der vielen Gedanken des Grafen Zinzendorf selbst: 1728 hatte er in der allabendlichen »Singstunde« die spontane Idee, der versammelten Gemeinde ein kurzes Merkwort für den folgenden Tag mitzugeben, nach dem sie ihren Alltag ausrichten konnte. Ursprünglich wurde diese »Tagesparole« jeden Morgen von einem Bruder in die einzelnen Häuser gebracht. Bald aber wurden die Losungen für ein ganzes Jahr im Voraus gezogen und gedruckt herausgegeben. Allein im deutschsprachigen Raum werden heute jährlich über eine Million Losungen verkauft; daneben gibt es Losungsübersetzungen in derzeit ca. 40 Sprachen.

Die Brüdergemeine unterhält mehrere lnternatsschulen, Altenheime, Kindergärten und sonstige diakonische Einrichtungen, die immer auch Nicht-Mitgliedern offenstehen.  

Am meisten fällt im Gemeindeleben die Mannigfaltigkeit an gottesdienstlichen Formen ins Auge. Neben der Predigt gibt es die Singstunde am Sonnabend, in der sich die Gemeinde sozusagen selbst eine Predigt aus Gesangbuchversen hält; auch im Abendmahl wird gesungen, während das Brot ausgeteilt und der Kelch von Hand zu Hand durch die Reihen gereicht wird. Höhepunkte sind die Advents- und Weihnachtszeit, die mit dem traditionellen »Hosianna-Singen« am 1. Advent beginnt, und die Passions- und Osterzeit mit ihren Lesungen der Leidensgeschichte Jesu und der Auferstehungsfeier bei Sonnenaufgang am Ostermorgen auf dem »Gottesacker«. Der schlichten und fröhlich gestimmten Frömmigkeit der Geschwister entsprechen die geselligen Versammlungsformen wie das Liebesmahl (die Agape - Feier) und die Gemeindefeste. Auffallend sind auch Formen und Ausstattung des Gottesdienstraumes: der Saal ist in Weiß gehalten, der Farbe der Freude und Reinheit; der/die Gemeinhelfer/in (Pfarrer/in) sitzt in dunkler Kleidung hinter einem einfachen »Liturgustisch«.

Die ersten Mitglieder der Brüdergemeine kamen 1750 auf Einladung des Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied in die 1653 gegründete Stadt Neuwied. Ein eigenes Karree - die ganze bisherige Stadtanlage war schachbrettartig eingeteilt - wurde den Geschwistern zugewiesen mit der Erlaubnis, ihr Glaubensleben frei zu gestalten und einen Saal für ihre gottesdienstlichen Versammlungen zu bauen. Auch Gewerbe wurde erlaubt. Schon 1772 war das erste Karree (Engerser-, Pfarr-, Langendorfer-, Friedrichstraße) vollständig bebaut. 1783 wurde der Grundstein des jetzigen Kirchsaales gelegt. 1784 störte das höchste Hochwasser, das Neuwied je erlebte, die Baumaßnahmen das Bauen erheblich. Erst am 16. Oktober 1785 wurde der Saal eingeweiht. Als besondere Vergünstigung der Wiedischen Landesherrschaft durfte auf der neuen Kirche erstmals ein Glockenturm angebracht werden, was vorher noch keiner geduldeten Kirche gestattet war.

Über Handel und Gewerbe in der Neuwieder Brüdergemeine schreibt die Neuwieder Zeitung aus dem Jahre 1922: „Nicht nur in geistiger Beziehung, sondern auch im gewerblichen Leben wurde die Brüdergemeine für die Stadt Neuwied bedeutungsvoll, besonders in früheren Zeiten. Im Brüderhaus entstanden in rascher Folge blühende Geschäft so die Schreinerei, gegründet 1760, die Bäckerei, Dampfwäscherei, Kellerei(Brüderstübchen), die Ofenfabrik mit ihrer Spezialität der Saal und Kirchenheizung, ferner die Seifensiederei und Lichtzieherei, die Schneiderei und Schuhmacherei u.a.m. Nach dem großen Brande im Jahre 1870 wurde die Brauerei an der Engerser Landstraße neu erbaut Ihre Felsenkeller in Niedermendig mit dem tiefgebohrten, ausgezeichneten Wasser gebenden Brunnen, der ständigen Eissäule, waren berühmt und sehenswert. Die Erfindung der Eismaschine sowie zunehmende Erwärmung der Felsenkeller haben auch hier zur Aufgabe gezwungen.“  Die berühmte Möbelwerkstatt der Kunsttischler Abraham und David Roentgen ist aus der erwähnten Schreinerei hervorgegangen.

Auf pädagogischem Gebiet hat die Brüdergemeine dazu beigetragen, Neuwied zur Stadt der Schulen zu machen. Die Internatsschulen für Knaben und Mädchen waren die ersten höheren Schulen der Stadt. Sie erlangten internationale Bedeutung, weil sie von vielen Schülern aus England, Frankreich und der Schweiz besucht wurden. Die letzte dieser Einrichtungen, die Zinzendorfschule in der Friedrichstraße, musste Ostern 1936 in der Zeit des Nationalsozialismus geschlossen werden.